Chinas unsichtbare Fäden der Macht

Warum es so wichtig ist, 'Beziehungen' auch einmal 'chinesisch' zu verstehen.

Impulse von Dr. Helmut Steigele

他有很多關係 (Er hat viele und vor allem gute Beziehungen). 他是一個有名的人 (Er ist sehr bekannt und hat einen guten Ruf). Wenn du mit diesen beiden Sätzen in China beschrieben wirst, hast du eines geschafft. Du bist ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft und du wirst als moralisch integrer Partner innerhalb von Austauschbeziehungen betrachtet.

Wirtschaftliche Austauschbeziehungen in China liefen und laufen aber, im Gegensatz zum heutigen Europa nicht auf Basis von anonymen und rein schriftlichen Vereinbarungen (solche gelten maximal als Standortbestimmung einer Beziehung, nicht aber als verbindliches Regelwerk), sondern auf Basis von Face-to-Face-Beziehung, Kontinuität, Vertrauen und der Kenntnis, auf welcher Hierarchiestufe man sich in der Austauschbeziehung befindet.

Warum das so ist, ist einfach erklärt. Jahrtausende an Erfahrungen im chinesischen Raum, die damit verbunden waren, dass ein einzelnes Individuum sich weder gegen die Willkür der Staatsmacht, noch gegen die Kollateralschäden fehlender Zentralinstanzen schützen konnte, ließen einen Überlebensmechanismus reifen, der zu allererst das materielle Heil der Familie, des Dorfes und des Clans ins Zentrum stellte.

Ein pures Handeln im Sinne weltlich reflektierten Altruismus oder gegebenenfalls religiös begründeter „Nicht-Clanbezogener-Nächstenliebe“ ist in so einem Umfeld genauso wenig von Nutzen, wie ein rein auf „Vertrag“ bezogenes Handeln zwischen zwei persönlich „nie miteinander handelnden wirtschartlichen Entitäten“ (wie einer AG, einer Handelsgesellschaft oder Ähnlichem).

Beziehung hat also in China immer etwas mit „Nutzen“ zu tun, mit einem Nutzen, der durch gegenseitige Loyalitäts- und Bestätigungsrituale, durch moralische Inszenierung und zur Schaustellung der eigenen Integrität untermauert und gepflegt wird. Genau hier aber beißt sich „europäisches“ mit „chinesischem“ Verständnis im Wort Beziehung.

Denkt so mancher „Nicht-Chinese“ hier sofort an eine Begegnung auf Augenhöhe, so weiß der Chinese, dass sich die „Augenhöhe“ im besten Fall über die Dauer der Beziehung erst erarbeitet werden muss, im Normalfall die Parität der ausgetauschten „Leistungen“ im Zentrum steht. Diese Augenhöhe hat wiederum viel mit der persönlich angesammelten Anzahl und Stärke der schon vorhandenen Beziehungen und dem erarbeiteten Ruf zu tun.

Heben wir nun genau diese Denke auf die Ebene eines Staates und das Bild einer gesamthaften „Völkerfamilie“, die diesen Globus bevölkert. Wenn also China für sich selbst als wirtschaftlich autarkes „Dorf“ prosperieren will, braucht es funktionierende, auf lange Zeit ausgerichtete Austauschbeziehungen, die es (basierend auf einem materiell ausbalancierten Austausch) mit all dem versorgen, was für das Erreichen der eigenen Ziele gebraucht wird.

So lange aber diese Austauschbeziehungen über den Globus hinweg noch nicht entsprechend etabliert sind, wird es im Kampf um Ressourcen, Einfluss und dem Erhalt der Zukunftsfähigkeit auch für China eng.

Sehen wir uns also unter diesem Blickwinkel an, wohin China mit dem Projekt „Belt and Road Initiative“ seine Beziehungen dadurch festigt, in dem es durch Vorschießen von Kapital, Sicherung von Versorgungspunkten und Häfen und Aufbau von Transportrouten, das erreicht, was es sich selbst als „global Village“ vorstellt:

Beziehungstraßen
Die „Beziehungstraßen“ laufen in der Regeln dort durch, wo es entweder Energie, Rohstoffe oder intellektuell wichtiges Kapital (Stichwort Europa) bzw. zahlungskräftige Absatzmärkte gibt.

Was also auf allererstem Blick aussieht, wie die Wiederbelebung einer tausende Jahre alten Tradition (früher endete die Seidenstrasse in Konstantinopel, was nach Unterbruch dieser Route passierte, können die heutigen Latein- und sonstigen Amerikaner beschreiben), ist der Versuch, den Globus neu zu ordnen, um Chinas Existenz langfristig zu sichern. Das ist auch nicht verwerflich, es wurde seit 2008 in den Planungsdokumenten der KPCH und der chinesischen Presse entsprechend erörtert.

Wer im Umgang mit China geübt ist, weiß, dass Langfristigkeit (mindestens 20, wenn nicht 100 Jahre) und Stabilität zu den Grundfesten chinesischer Staatsführungskunst gehören: ein kleines Detail, das vielen Europäern noch mehr aber den Amerikanern auf den Kopf fallen wird.

Beziehung ist hierarchiebezogen. Der Ältere und im Geiste erfahrenere, der materiell Stärkere gibt vor, in welcher Position der Andere in der Beziehung steht. China sieht sich mit einer knapp 4000 Jahre währenden Tradition entsprechend. Europa folgt, dann Amerika und der Rest.

Xunzi, geb. ca. 300 v. Christus, ein auch heute hoch geschätzter Staatstheoretiker in China, schreibt hierzu: „Wenn zwei dieselbe Macht und den selben Rang und die selben Bedürfnisse haben, so reichen die vorhandenen Güter nicht für beide, sie werden unweigerlich streiten. … Unsere ersten Herrscher verabscheuten dieses Chaos. Also richteten Sie Ränge, Etikettee und Moral ein, so dass es möglich wurde, gemeinsam für alle unten Sorge zu tragen.“

Für eine zivilisatorisch alte und gereifte Entität wie Europa bedeutet dies, dass man sich wieder Respekt verschaffen, sich aber auch ein Denken in „chinesischen“ Kategorien zulegen muss, will man nicht in das Diktat chinesischer Moralvorstellungen hineingeraten.

Noch wichtiger aber ist es für uns Europäer, das wirtschaftliche und kulturelle System „Asien“ einmal so verstehen zu lernen, wie es eben ist. Anmerkung am Rande: Mit der Errichtung der Seewege in den Westen, der Kolonisierung Amerikas und der Anbindung Südostasiens an Europa von 1600 bis heute, haben wir Europäer Ähnliches getan. Mal sehen, wie groß die Kollateralschäden jetzt ausfallen.

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